Die aus Nürnberg angereisten Sozialpädagogen Leonie Petzold und Peter Kessler, beide 26 Jahre alt, fungieren mit noch zwei anderen Sozialpädagogen als Herausgeber des Buches „Ich bin mehr“, das die Geschichten und Erlebnisse von jungen unbegleiteten Geflüchteten im Jahr 2015 aus unterschiedlichsten Ländern erzählt. „Ich bin mehr“ – als eine Nummer, eine Zahl….ich bin eine Person, die Schwieriges und teilweise Traumatisches erlebt hat, so wird der Titel des Buches erklärt. Die Autoren verstehen sich als Überbringer der Geschichten, die gehört werden sollten. Sie haben sie nicht selbst erlebt, sie wurden ihnen erzählt. Nach unzähligen Interviewstunden entstanden die Texte über die einzelnen jugendlichen Geflüchteten.

Vorgestellt wird das Schicksal von Jaman, der 2015 mit seinem Zwillingsbruder aus Damaskus in Syrien flüchtet. Eine Kurzbeschreibung der Stadt, aus der die Jugendlichen kommen und fliehen,  ist jeder Erzählung vorgeschaltet – sie liest sich wie ein Reisebericht – vorerst. Daran schließen sich die Erlebnisse der Flucht an, die vielen einzelnen Stationen, die Monate voller Ungewissheit und Angst und schließlich das Ankommen in Deutschland und die neuen Perspektiven, die sich hier für die beiden ergeben. 

An die vorgetragene Erzählung von Jamans Schicksal schloss sich eine Fragerunde mit zwei farbigen Kärtchen an: eines stand für „ICH“, das andere für „ICH NICHT“, die man zu den jeweiligen Fragen individuell hochhalten sollte. Leonie Köhler versuchte so, Gruppenerfahrungen zu generieren: man fühlt sich wohler, wenn man der Mehrheit angehört, so die Meinung der M-Klässler im Anschluss. Manche Fragen berührten auch die Lehrkräfte, wie z. B. „bist du mit deinen eigenen Eltern aufgewachsen?“, die das eigene Leben in den Fokus nehmen. Fragen zur Entstehung des Buches (innerhalb eines Studienprojekts), zum Verdienst und zu den Kosten (es wird zum Selbstkostenpreis von einem Erlanger Verlag vertrieben und kostet 8 €) und zu der Befindlichkeit der Autoren (das Schicksal einzelner ging so nahe, dass Leonie in der S-Bahn so berührt war, dass sie weinen musste), rundeten die gelungene Lesung für die 7bM, 8cM und 8dM ab.

Das Buch ist ein Statement für Geflüchtete und soll den Leserinnen und Lesern Anlass sein, mit den Schicksalen Jugendlicher ihrer Zeit Empathie zu entwickeln.

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Ausführlicher Inhalt von Jamans Schicksal:

2011 leben in Damaskus zwei Millionen Einwohner, als die Terror-Organisation IS das öffentliche Leben komplett verändert. Jamans Vater hat ein Herrenbekleidungsgeschäft im Süden der Stadt, gibt dieses aber auf, als die Kontrollen auf der Straße zunehmen. Die gesamte Familie zieht 2014 zu einem Onkel im Norden Damaskus, wo es sicherer erscheint. Bei ihrer Rückkehr 2015 waren der Laden und das Haus leergeräumt, ausgeraubt. Es gibt kein Geld mehr für die Schule. Jaman arbeitet bei einem Schreiner und in einer Schneiderei. Bei einem Bombenangriff wird Jaman durch einen Metallsplitter schwer am Oberarm verletzt. Die Familie lebt in ständiger Angst, da es nun tägliche Bombenangriffe gibt. Sie beschließt, dass die ältesten Brüder gehen sollen, um in Frieden und Freiheit leben zu können. Mit dem Flugzeug geht es am 14.11.2015 in die Türkei, ein Lieferwagen bringt sie ans Meer zu einem Schlauchboot in Richtung Griechenland. Das Boot hat aber ein Leck, ein Rettungsboot findet sie noch rechtzeitig und bringt alle zurück in die Türkei. Beim zweiten Versuch ergreift sie die Marine und schickt sie abermals zurück. Der dritte Versuch gelingt. Mit einem Boot und mithilfe von Handy-GPS landen sie in Griechenland, Reisebusse bringen sie nach Nordmazedonien, ein Taxi nach Slowenien, der Zug nach Österreich und von dort gehen sie zu Fuß nach München, von wo aus sie nach Zirndorf und dann nach Nürnberg-Langwasser gebracht werden und neun Monate bleiben. Diese Zeit ist sehr belastend: 6 – 8 Jugendliche in einem Zimmer, es gibt nur Warten, Lesen, Lernen, Schach- und Kartenspiel – und andauernde Schlägereien. Im September 2016 kommt dann die Aufenthaltsgenehmigung. Es folgen Schule, eine eigene Wohnung in Nürnberg, ein Sprachkurs, gute Schulnoten. Im Oktober 2018 beginnt Jaman die Ausbildung zum Monteur. Er ist froh, in Deutschland zu leben – ein Leben ohne Angst und in Frieden. Nach der Ausbildung will er zusammen mit seinem Bruder versuchen, wieder nach Hause zu kommen. Damaskus muss wieder aufgebaut werden.

(Text: I. Kellmann, Bilder: A. Geier)